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Szenarien für Rheinland-Pfalz: Zwischen Dystopie und Utopie

In zwei Szenarien beschreiben Experten beispielhaft, wie sich Digitalisierung und Künstliche Systeme auf kommunales Leben auswirken könnten: einer utopischen Variante und einer dystopischen.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus der „Gutachterlichen Stellungnahme zu den Auswirkungen künstlicher Systeme und der Digitalisierung auf das kommunale Leben in Rheinland-Pfalz 2050“. Die gesamte Studie steht unter ea-rlp.de/earlpdigital2019 zum Download als PDF (88 Seiten, 18 MB) bereit.

Auszug 1 – Künstliche Intelligenz: Konzepte und Technologien
Auszug 2 – Fünf Beispiele: Chancen durch KI in Landwirtschaft, Gesundheit, Ehrenamt, Tourismus und Mobilität in RLP
Auszug 3 – Szenarien für Rheinland-Pfalz: Zwischen Dystopie und Utopie

Zusammenfassung

Autorinnen und Autoren: Matthias Berg (Fraunhofer IESE), Christoph Giehl (Stadtsoziologie TU Kaiserslautern), Matthias Koch (Fraunhofer IESE), Martin Memmel (DFKI), Annette Spellerberg (Leitung; Stadtsoziologie TU Kaiserslautern), Ricarda Walter (Stadtsoziologie TU Kaiserslautern); unter Mitarbeit von: Steffen Hess, Andreas Jedlitschka, Michael Klaes, Dieter Lerner, Adam Trendowicz (Fraunhofer IESE).

Im Unterschied zu Science Fiction stellen Szenarien mögliche Situationen in der Zukunft im Zusammenhang mit den Pfaden dar, die zu diesen Entwicklungen führen. Da die Zu­kunft grundsätzlich offen und nicht prognostizierbar ist, haben Szenarien nicht den An­spruch, ,,ein umfassendes und realistisches Bild der Zukunft darzustellen” (Bauer et al. 2018, 12). Szenarien bieten aber die Möglichkeit, denkbare Horizonte der zukünftigen Si­tuation zu beschreiben, die zudem das Handeln widerspiegeln, das zu diesen Entwicklun­gen geführt hat. Das Ziel der Szenario-Methode ist, Zukunftsvisionen zu entwerfen und zu beschreiben, die in sich kohärent und stabil sind und sich gleichzeitig voneinander unter­scheiden, um ein möglichst breites Entwicklungsspektrum abzudecken. Der Möglichkeits­raum und der sich darauf beziehende Diskussionsprozess werden dadurch ausgedehnt, ohne unwahrscheinlich oder absurd zu werden. Schon der Prozess des Entwerfens fördert Kreativität und maßgebliche, konkrete Erkenntnisgewinne und Denkanstöße. Um mit den Szenarien weiter verfahren zu können, ist es sinnvoll, neben der Stimmigkeit der Endsze­narien die für die zukünftige Entwicklung bestimmenden Einflussfaktoren besonders her­auszuarbeiten (Bauer et al. 2018, 12; Bienzeisler et al. 2016, Mietzner 2009, 95).

Die Szenarien, die im Folgenden beschrieben werden, basieren auf den Er­gebnissen eines Expertenworkshops mit dem Titel „Auswirkungen künstlicher Systeme im Speziellen und der Digitalisierung im Allgemeinen auf das kommunale Leben in Rhein­land-Pfalz im Jahr 2050″, der im Januar 2019 durchgeführt wurde. Die dafür eingeladenen Teilnehmerinnen und Teilnehmer kamen aus den Wissenschaftsdisziplinen Stadtsoziolo­gie, experimentelles Software Engineering, Künstliche Intelligenz, Raum- und Umweltpla­nung und Technikfolgenabschätzung sowie aus der Praxis in diesen Bereichen. Da große Teile des Bundeslandes Rheinland-Pfalz ländlich geprägt sind, sich viele der intelligenten Technologien bisher jedoch auf urbane Anwendungen beziehen, wurde dies bei der Aus­wahl der Experten berücksichtigt, von denen sich einige auf den ländlichen Raum spezia­lisiert haben.

Das Ziel des Workshops war, Szenarien zu der Thematik „Veränderungen durch KI und Digitalisierung in Rheinland Pfalz” zu entwickeln. Die Szenarien sollten sich um das Jahr 2050 abspielen und konkrete Innovationen und Veränderungen beinhalten, die in ver­schiedenen Lebensbereichen zu erwarten sind. Sie sollten sich sowohl auf den städti­schen als auch auf den ländlichen Raum beziehen und jeweils utopisch wie auch dysto­pisch ausformuliert werden.

(Foto: Unsplash)

Welches sind die treibenden Kräfte im Szenariofeld?

Zu Beginn des Prozesses war es sinnvoll, jegliche Einflussfaktoren zu definieren, die eine wichtige Rolle in der Zukunftsvision „Rheinland-Pfalz 2050″ spielen können. Anfangs wa­ren dies primär Technologien (KI, Roboter VR), während des Workshops kamen klimati­sche und demografische Veränderungen dazu. Da das Szenariofeld sehr breit gefasst ist und nicht nur einen konkreten Lebensbereich ins Auge fasst, war es wichtig, zuvor zentrale Lebensbereiche und deren Entwicklungspotenziale in das Aufmerksamkeitsfeld der Teil­nehmerinnen und Teilnehmer zu rücken. Beispiele für als relevant erachtete Bereiche und im Workshop genannte Entwicklungen sind u.a.: Mobilität (u.a. automatisierte Zahlungen), Arbeit und Wirtschaft (u.a. globale Ungleichheit nimmt zu, schwimmende Gewächshäuser, Ende der Tierhaltung), Gesundheit und Pflege (vorausberechnete Lebensdauer), Verwal­tung und Sicherheit (Mini-Wahlen, dominante Bürokratie), Politik und soziale Bewegungen (analog als neue soziale Bewegung).

Wie könnten sich die Einflussfaktoren in der Zukunft entwickeln?

In diesem Schritt ist es zentral, aktuelle Tendenzen, vor allem die identifizierten Schlüssel­Einflussfaktoren, in die Zukunft zu projizieren und die Folgen abzuleiten. Hierbei gilt es, über die herrschende Realität hinaus zu denken. Exemplifiziert wird das in einer Trichter­form, da ein Einflussfaktor zu sehr unterschiedlichen Entwicklungen führen kann, zum Bei­spiel zu dystopischen und utopischen, wie im hier dargelegten Fall.

Welche zukünftigen Entwicklungen des Szenariofeldes sind denkbar?

Hierfür wurden die überzeugendsten Ideen aus den Zukunftsprojektionen zu konkreten Szenarien verarbeitet. Im Workshop hatten die drei Gruppen jeweils die Aufgabe, ein Sze­nario zu erarbeiten, das drei Lebensbereiche (z.B. Energie und Umwelt, Wohnen sowie Freizeit, Kultur und Tourismus), drei Technologien (smarte Ökosysteme, AR, Data Mining) und drei Bevölkerungsgruppen (Einwanderer, Geringverdiener, Familien) umfasst. Die in den Klammern genannten Beispiele betrafen Gruppe 2.

Wie hängen die Szenarien zusammen und welche Kräfte wirken?

Die Antwort auf diese Frage wird in den folgenden Unterkapiteln gegeben, die die Ausar­beitungen eines utopischen und eines dystopischen Szenarios sowie anschließend eine Synthese beinhalten, aus der im Anschluss Handlungsimpulse abgeleitet werden.


Szenario Utopie

Konkreter Rahmen

Die Vorausschau auf die utopische Situation im Jahr 2050 basiert auf einer durch Politik und Gesellschaft bewusst gesteuerten Transformation hin zu einer durch digitale Techno­logien und intelligente Algorithmen beeinflussten Welt. Insbesondere durch die Übertra­gung von Kompetenzen auf supranationale Organisationen, die Verpflichtung zu Transpa­renz und die bewusste Abkehr von privatwirtschaftlichen ökonomischen Prinzipien bei Ele­menten der Daseinsvorsorge konnte es gelingen, den Einfluss monopolistischer und zent­ralistischer Strukturen einzudämmen und eine Balance zwischen den Potenzialen und den Risiken des Einsatzes von Künstlicher Intelligenz herzustellen.

(Foto: Unsplash)

Hierzu wurden für die Daseinsvorsorge relevante Infrastrukturen verstaatlicht. Bürger ha­ben volle Datenhoheit und bestimmen individuell und situationsspezifisch, wann und wel­che Daten geteilt werden. Gestützt wird diese neue Balance zwischen Potenzialen und Risiken durch neue Gesetze wie der Verpflichtung zu Transparenz und offenen Quell­codes für Dienste der öffentlichen Verwaltung und der Daseinsvorsorge. Algorithmen wer­den allgemein als öffentliches Gut betrachtet. Zudem werden repräsentativ zusammenge­setzte Gremien eingesetzt, die Algorithmen und neu eingeführte Technologien hinsichtlich dieser Gesetzeslage sowie ethischer und moralischer Überlegungen bewerten und über­wachen.

Durch neue Formen von Arbeit, Mobilität und politischer Teilhabe kam es zu einem deut­lichen Bedeutungsgewinn für den immer attraktiver gewordenen ländlichen Raum. Mit all den Möglichkeiten der Arbeitsgestaltung, Industrie 5.0, VR, AR und neuen Biotechnolo­gien, den neuen Mobilitätsformen, die den öffentlichen Nahverkehr ergänzen, und dem wieder erstarkten Gemeinschaftsgefühl in den Dörfern und Quartieren haben Klein- und Mittelstädte mit Großstädten im Hinblick auf ihre Attraktivität und Handlungschancen gleichgezogen. Es konnte in den neuen Regimen von transnationalen Strukturen und lo­kalen Demokratien sowie mithilfe intelligenter Technologien (etwa bei der automatischen Übersetzung oder bei der Bevölkerungsverteilung) auch gelingen, den durch Klimawandel und globale Migrationsbewegungen bedingten Bevölkerungszuwachs derart zu steuern, dass trotz der größeren Vielfalt eine weltoffenere und tolerantere Gesellschaft entstanden ist.

Eine der Voraussetzungen hierfür war, dass die Menschen ihre Art des Zusammenlebens, soweit möglich, genossenschaftlich und kleinteilig organisiert haben (Quartiersgenossen­schaft in der Stadt, Dorfgenossenschaften auf dem Land). Wohnraum ist mehrheitlich kein Privateigentum mehr, sondern im Besitz von Genossenschaften. Die Mehrfamilienhäuser verfügen teilweise nicht nur über Wohnräume, sondern auch über Arbeitszimmer, Co-Wor­king Spaces und Hobbyräume (Sport, Produktionen aller Art, Tauschräume etc.). Die Ge­bäude werden zudem für vertikales Farming genutzt; sie produzieren nicht nur Nahrungs­mittel, sondern auch Energie und verarbeiten Regen- und Brauchwasser. Die Verteilung von Wohnraum, Rohstoffen und Energie wird durch eine KI nach Bedarf, aber auch nach individuellen Vorlieben gesteuert, wobei diese lediglich Vorschläge für die Genossen­schaften und Orte unterbreitet.

Auf politischer Ebene werden Dörfer und Quartiere durch demokratisch legitimierte „Bürgermeister” vertreten, die Entscheidungen auf Basis datengestützter, rationaler Bewertun­gen einer Verwaltungs-KI treffen. Sie sind in repräsentative Gremien eingebunden, die sich, wie in den vorhergehenden Jahrzehnten, subsidiär zueinander verhalten (Genossen­schaft, Quartier bzw. Dorf etc.). Allerdings gibt eine KI Inputs, wie Gremien optimal zusam­mengesetzt sein können. Gemeindeverfassungen bleiben Kernelemente des kommuna­len Lebens; zudem verfügen Gemeinden auf allen Ebenen über mittels KI optimierte Geld­, Sach- und Personalressourcen. Verwaltungen sind, so diese für größere Einheiten noch benötigt werden, komplett digitalisiert, Referate durch Organisationsteams ersetzt. Da Al­gorithmen im Sinne der Transparenz öffentlich sind, werden Entscheidungs- und Steue­rungsprozesse insgesamt als egalitärer und demokratischer eingeschätzt als z.B. in den 2020er Jahren.

Durch die Zunahme der Produktivität durch Automatisierung in quasi allen Bereichen der Wertschöpfung hat sich die allgemeine Arbeitszeit reduziert und das Arbeitsleben insge­samt flexibilisiert. Nicht-profitorientierte Elemente wie Genossenschaften, Commons, Col­laborating, Tausch und „Sharing” haben die Marktwirtschaft in erheblichem Umfang er­gänzt. Von der Gemeinschaft beschlossene Kernarbeitszeiten existieren nach wie vor, da diese auch einen sozialen Rahmen schaffen, der gemeinsame Kern- und Freizeiten er­möglicht. Horne Office, verschiedene Arbeitszeitmodelle im Lebenslauf und digitale No­maden haben sich durchgesetzt. Durch die Arbeitszeitverkürzung und veränderte Arbeits­organisationen und -tätigkeiten wird insgesamt weniger zwischen Arbeitszeit, Sorgetätig­keiten, Engagement und Freizeit unterschieden. Für ziviles Engagement wurde ein Sys­tem in Form eines individuellen Gemeinschaftspunkte-Kontos geschaffen, in dem für die Genossenschaft bzw. die Gemeinschaft erbrachte Zeit registriert und verrechnet wird.

Szenario

Mathias Müller wacht ausgeruht in seinem Bett auf. Er hat sehr gut geschlafen, wie er es eigentlich jede Nacht tut. Er erinnert sich noch an früher, als er ein Teenager war, und sich morgens, aufgeschreckt durch den Klingelton seines Weckers zu – für seine Begriffe – unmenschlichen Uhrzeiten aus dem Bett quälen musste. Zum Glück gehören diese Zeiten der Vergangenheit an, denn heute wird er, abgestimmt auf seinen natürlichen Biorhyth­mus, von leichten und sich immer schneller wiederholenden Vibrationen seines Kissens geweckt. Die modernisierten, ambienten Häuser sind darauf eingestellt, das Wohlbefinden der Bewohner zum Beispiel durch farbliche, olfaktorische und haptische Reize zu maxi­mieren, ohne dabei die individuellen Bedürfnisse der anderen Haushaltsmitglieder zu be­einträchtigen.

(Foto: Unsplash)

Für viele Aspekte seines täglichen Lebens hat Mathias sich entschieden, sein Lieblings­modell der lizenzierten Kl-basierten Assistenten zu verwenden. Dieser nutzt einen Algo­rithmus, der auf seine Physiologie und seine Pläne für den Tag abgestimmt ist, um unter anderem seine optimale Aufstehzeit zu bestimmen. Um diese Informationen zur Verfü­gung zu stellen, hat Mathias dem Assistenten Zugriff auf seine persönlichen Daten erlaubt, die er immer mit sich führt und über die nur er selbst bestimmen darf. Nachdem es vor vielen Jahren immer wieder zu Skandalen mit der illegalen Verwendung persönlicher Da­ten gekommen war, konnte durch den Einsatz von Regularien, wie der Verpflichtung zu Transparenz und offenen Quellcodes sowie der Rekommunalisierung grundlegender, für die Daseinsvorsorge relevanter Infrastrukturen ein hohes Maß an Vertrauen gegenüber solchen persönlichen Assistenten sichergestellt werden.

Mathias schaut auf die andere Seite des Bettes. Carmen, seine Frau, ist schon aufgestan­den. Sie hat einen etwas anderen Rhythmus und wird in aller Regel von ihrem KI-Assis­tenten etwas früher geweckt. Erholt, frisch und ausgeschlafen steht Mathias auf und geht in das Gemeinschaftszimmer, wo Carmen und ihr jüngstes Kind Leonard, der gerade acht Jahre alt geworden ist, bereits am Frühstückstisch sitzen und sich unterhalten. Leonard berichtet, dass Mathias ihm heute die Drohnen im Wald zeigen wird.

Das Assistenzsystem des Hauses hat sein Frühstück frisch zubereitet. Heute Morgen ist es eine Interpretation seiner Lieblingsspeisen mit erhöhtem Proteingehalt, damit er für den bevorstehenden Ausflug ausreichend mit Energie versorgt ist. Carmen und Leonard früh­stücken eigene Variationen ihres Lieblingsessens, jede optimal angepasst an persönliche Vorlieben und den Tagesbedarf. Für Assistenzsysteme ist es schon lange keine Hürde mehr, dass Carmen aus moralischen Gründen auf genetisch modifizierte Nahrung ver­zichtet, Mathias die traditionellen Geschmacksrichtungen aus seiner Kindheit bevorzugt und Leonard mit Vorliebe sämtliche von der KI neu designten Aromen durchprobiert.

Julia, die mittlere Tochter von Mathias und Carmen, sowie Sarah, die älteste, sind noch nicht aufgestanden. Die beiden schlafen noch, dafür werden aber alle den Abend wieder gemeinsam verbringen.

Gerade für Julia ist das spätere Aufstehen nicht ungewöhnlich, da sie heute lediglich eines der Lieder fertigstellen will, das sie für eine neue Aufführung der örtlichen Theatergruppe komponiert. Danach geht sie sich noch etwas um andere Einwohner kümmern; also alles in allem ein durchschnittlicher Tag für sie.

Nach dem Frühstück denkt Mathias daran, wie sich die Region in den letzten Jahren ver­ändert hat, während er sich für den Ausflug mit Leonard vorbereitet. Heute wohnt die Fa­milie in einem kleinen Städtchen mit knapp 6000 Einwohnern mitten im ländlichen Nord­pfälzer Bergland. Aber das war nicht immer so, denn geboren und aufgewachsen ist er in Mainz, wo er während seines Studiums Carmen kennen gelernt hatte. Es war Liebe auf den zweiten Blick, denn für Carmen, die von den Philippinen stammt, ging es nach dem Studium erst einmal wieder zurück in die Heimat. Als es dort aber vor einigen Jahren zur Überschwemmung der meisten Inseln kam und die EU ihre Freizügigkeitsregelungen auf­grund des Klimawandels angepasst hatte, verließ Carmen ihre Heimat als Klimaflüchtling und kehrte an den Rhein zurück – wo sie und Mathias sich wieder begegneten. Für die beiden jungen Menschen hatte die Großstadt alles zu bieten, doch wurde das Land mit all dem technischen Fortschritt immer attraktiver, sodass sie sich dazu entschlossen, umzu­ziehen.

Das kleine Städtchen ist heute ein beliebtes touristisches Ausflugsziel mit attraktiven An­geboten der Naherholung, unter anderem weil es sich seinen historischen und kulturellen Charme beibehalten hat. Auch wurde aufgrund des Klimawandels der Weinbau in der Re­gion entdeckt, welcher, zum Teil als weiteres touristisches Angebot, nach wie vor traditio­nell betrieben wird.

(Foto: Unsplash)

Mathias ist bereit für seinen Ausflug mit Leonard. Seine Frühstücksutensilien sowie der entstandene Schmutz wurden bereits unauffällig von kleinen, unaufdringlichen und auto­nomen Haushaltsrobotern beseitigt. In der Zwischenzeit ist auch Sarah aufgestanden – ein Frühstück wurde nicht für sie vorbereitet, da sie so kurz nach dem Aufstehen noch nichts isst. Sarah ist Lebensmittelexpertin und Köchin; sie berät Menschen und Restau­rants beim analogen und gesunden Kochen, einer der touristischen Hauptattraktionen im Städtchen. Lebensmittel, Essen und Kochen sind zu einem äußerst komplexen Thema geworden. Zwar verstehen sich die verschiedenen Assistenzsysteme mittlerweile hervor­ragend darauf, nicht nur gesunde, sondern auch leckere Speisen vorzubereiten, jedoch hat sich das „analoge Kochen”, also die Zubereitung von Speisen ohne technische Hilfs­mittel, aufgrund seiner sozialen Komponente und seines Eventcharakters in vielen Bevöl­kerungskreisen erhalten.

Außerdem ist Sarah Kümmerin und Tutorin. Das bedeutet, dass sie innerhalb ihrer Quartiersgemeinschaft ihre Fähigkeiten zur Verfügung stellt. Heute zeigt sie ein paar Interes­sierten aus der Gemeinschaft einige Tricks beim vertikalen Farming und wie man das auf diese Art selbst gezogene Gemüse zubereitet. Denn heutzutage können und werden Pilze, Kräuter, Salate, Gemüse und Nahrungsergänzungsmittel von jedermann mithilfe fla­cher Ständersysteme an den Gebäudefassaden selbst gezogen. Die Bewässerung und das Besprühen mit Aromastoffen für bestimmte Insekten, deren Bestände sich durch strik­ten Schutz und hohe Strafen für insektenschädliches Verhalten gut erholt haben, erfolgt komplett automatisiert und nach Bedarf, was zu höheren Ernten und wertvolleren Inhalts­stoffen führt.

Geld bekommt Sarah dafür keines, Kümmererarbeit ist immer ehrenamtlich. Dafür be­kommt sie die investierte Zeit auf ihrem Gemeinschaftskonto gutgeschrieben, dessen Gut­haben sie jederzeit gegen andere Leistungen eintauschen kann. Gleichzeitig überträgt sie als zertifizierte Tutorin die Unterrichtsstunde live ins Netz, sodass auch andere, physisch nicht anwesende Menschen zusehen und sich qualifizieren können. Dieses neue System ist Teil der lang ersehnten und längst überfälligen Reform des Bildungssystems. Lernen ist individueller, freier und selbstbestimmter geworden, die Schule insgesamt fluider. Ri­gide Strukturen, welche längst überholt waren, wurden aufgelöst. So herrscht heute bei­spielsweise bis auf bestimmte Kernzeiten bzw. Kernblöcke keine Anwesenheitspflicht mehr in den Schulen, welche durch das neue System vor allem zu sozialen Lernorten geworden sind. Zwar existiert ein gemeinsamer Kanon, jedoch basieren Lernen und Bil­dung zu einem großen Anteil auf eigener Zeiteinteilung. Bildungsabschlüsse sind dadurch nicht weggefallen. Der Weg, diese zu erreichen, ist heute jedoch durch neue Techniken und Lernumgebungen wesentlich flexibler und individualisierter. Inputs, wie die von Sarah, werden durch KI auf Stimmigkeit hin überprüft und bei positiver Evaluation den jeweiligen Lerninhalten zugefügt.

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Typischerweise sind Kl-basierte Assistenten wie die AI-Brille Kernelemente des neuen Bildungssystems. Jedes Kind, das in Deutschland lebt, kann von seiner Schule schon ab dem Alter von drei Jahren solche Assistenten bekommen. Es gibt diverse zertifizierte Mo­delle, die alle Kinder kostenlos erhalten und welche ausgetauscht werden, sobald neue Versionen der Modelle die Marktreife erlangen. Die AI-Brille macht im Grunde nichts an­deres, als dauerhaft mit dem persönlichen KI-Assistenten des Trägers zu kommunizieren. Sie greift dabei auf einen enorm großen Fundus an Lernmaterialien aus verschiedensten Quellen (die sowohl von transnationalen als auch von kleineren Entitäten wie der Kom­mune oder der Schule selbst ausgewählt oder entwickelt wurden) zu und erkennt dank intelligenter Algorithmen Situationen, in denen der Träger neue Lernerfahrungen macht oder bereits absolvierte Lernerfahrungen trainiert. Liegt in einer Situation das Potenzial einer neuen Lernerfahrung, so blendet der KI-Assistent über die Brille Lernmaterialien ein, die von digitalen Tutoren vermittelt werden. Nimmt der Träger die Lernchance war, so speichert der KI-Assistent die Information hierüber in der individuellen „Lern-DNA” des Trägers. Durch diese Technik ist es unter anderem gelungen, Qualifikationen zu erkennen und Zertifikate automatisiert auszustellen. Darüber, dass auch Trainings bereits absolvier­ter Lernerfahrungen dokumentiert werden, kann das Kompetenzniveau dauerhaft erfasst werden, wodurch z.B. ein „Job-Fit”, also die Eignung für einen bestimmten Job, berechnet werden kann.

Das Abitur, aber auch andere, im Rahmen des lebenslangen Lernens mögliche Ab­schlüsse, bekommt somit heute nicht mehr, wer eine gewisse Anzahl an Schuljahren ab­solviert und eine Abschlussprüfung bestanden hat, sondern, wer bestimmte Lernerfahrun­gen gemacht und in diesen eine gewisse Kompetenzstufe erreicht hat. So stellen Schulen heute im Wesentlichen den Rahmen, um über die definierten Lernerfahrungen diskutieren zu können, weshalb sie sich hoher Beliebtheit erfreuen. Lehrer wurden so im Großen und Ganzen zu Initiatoren und Moderatoren, und der pädagogische und soziale Anspruch des Jobs hat im Vergleich zum reinen fachlichen Wissen stark zugenommen.

Im Wald: Ökologie, Landwirtschaft

Um Lernerfahrungen zu machen, geht Mathias heute mit Leonard in den Wald, da dieser, um das Anfängerniveau in „Wir, Natur und Technik” zu erreichen, noch eine Lernerfahrung in „Roboter-Interaktion” benötigt.

Im Wald angekommen, gibt Mathias für Leonard ein Bild einer Drohne frei, welche Leonard auf seiner AI-Brille angezeigt bekommt und die es zu identifizieren gilt. Die Drohne, nach denen die beiden gesucht hatten – ein autonomer Roboter in Form und Größe eines Ko­libris – ist schnell gefunden. Die kleine Maschine wurde vor einigen Jahren entwickelt und „freigelassen”, als der Rückgang der Bienenpopulationen einen kritischen Punkt erreicht hatte. Heute ergänzen digitale Kolibris, deren Anzahl sich umgekehrt proportional zur Er­holung der Bienenbestände entwickelt, das Ökosystem.

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All diese Dinge bekommt Leonard gerade von seinem persönlichen KI-Assistenten per AI-Brille erklärt, wie Mathias an seinem staunenden und neugierigen Blick auf den Kolibri in Aktion erkennt.

In den nahegelegenen „analogen” Weinbergen, in denen Menschen zur Erholung und nach Ausgleich suchend mit ihren Händen arbeiten, lernt der Junge anschließend etwas über die klimabedingte Verschiebung des Weinbaus in die nördlicheren Zonen der Region und über Unterschiede im Aussehen der zu bearbeitenden Weinberge. Diese ergeben sich durch die für Menschen und Roboter unterschiedlichen Pflege- und Ernteweisen.

Zurück im kleinen Städtchen: Gesundheit, Sicherheit, Verwaltung, Arbeit, Mobilität Währenddessen bereitet sich Carmen auf ihren Termin mit den Vertretern der Senioren des Stadtteils vor. Sie haben einen Antrag auf Einsicht in die Arbeitsweise und Zulas­sungsinformationen eines Algorithmus einer neuen Gesundheits-Box gestellt, was jedem Bürger per Gesetz zusteht und gestattet werden muss. Carmen begleitet als Bürgermeis­terin des Städtchens die Senioren zum Ortsverband der MO (Allgemeine Algorithmus­Überwachung, dem Ethikrat mit technischer Expertise) und stellt sicher, dass den älteren Menschen alle Informationen zur Verfügung gestellt und Fragen zu ihrer Zufriedenheit be­antwortet werden.

Grundsätzlich müssen Technologien, die persönliche Daten verarbeiten, schon seit vielen Jahren von der unabhängigen europäischen Datenschutzorganisation CitizenDataProtec­tion zugelassen und bei jeder Veränderung neu evaluiert werden. Dabei wird unter ande­rem überprüft, welche Trainingsdaten genutzt wurden, ob die Algorithmen diskriminie­rungsfrei arbeiten und ob die Sicherheit der Daten gewährleistet ist. Darüber hinaus be­steht das Recht, selbst Verfahren anhand eigener Kriterien überprüfen zu lassen. Sollte sich bei solch einer Überprüfung des Algorithmus durch den unabhängigen Verband zei­gen, dass sein Leistungsumfang weiter reicht als beschrieben, so ist es Carmens Aufgabe, rechtliche Schritte einzuleiten. Tatsächlich sind Anliegen dieser Art eine ihrer Haupttätig­keiten als Bürgermeisterin der Stadt. Denn sie wurde nicht nur gewählt, um, unterstützt durch eine Verwaltungs-KI, Entscheidungen über die Zukunft der kleinen Stadt zu treffen, sondern auch und vor allem, um die Interessen ihrer Mitbürger gegenüber Unternehmen, Betrügern oder fehlerhaften KI-Entscheidungen zu vertreten.

Carmen steigt in eine autonome Transportkapsel, in der bereits zwei Senioren des Ver­bandes sitzen. Das präzise Timing des kleinen Sharing-Taxis ist längst Alltag, der Besitz privater Autos zu einem Hobby für Liebhaber geworden, da Sharing-Taxis den Individual­verkehr obsolet gemacht haben. So ist ständig eine ganze Flotte von Kapseln auf den Straßen unterwegs, die, als vernetzte Sehwarnintelligenz geschaffen, ständig auf Basis neuer Anfragen individueller KI-Assistenten optimale Routen planen, um möglichst viele Menschen mit möglichst wenig Kapseln mit so wenig Zwischenstopps wie möglich zu transportieren. Carmen musste sich die Transportkapsel nicht einmal selbst rufen oder bestellen, wie es in der Vergangenheit bei Einführung der Technik noch der Fall war. Diese Aufgabe wird heute, neben vielen weiteren organisatorischen Tätigkeiten, autonom von ihrem KI-Assistenten übernommen.

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Alles, was sie zu tun hatte, um direkt in ein vorfahren­des Taxi einsteigen zu können, war, ihren Termin mit dem Seniorenverband und den ge­wählten Transportweg zu bestätigen. Die „Kosten” für das vollautomatisiert produzierte Taxi kann sie, da die flexiblen Transportmittel ein öffentliches Gut sind, mit den gesam­melten Punkten ihres Gemeinschaftskontos verrechnen oder klassisch mit ihrem Bank­konto begleichen. Aber selbst diese Entscheidung kann sie auf Wunsch von ihrem KI­Assistenten übernehmen lassen, der aufgrund der Kenntnisse ihrer künftigen Termine so­wie Einnahmen und Ausgaben den optimalen Verrechnungssatz bestimmen kann. Zah­lungsmodalitäten entscheidet sie aber lieber nach wie vor selbst, auch wenn sie, um die Entscheidung zu treffen, gerne Empfehlungen ihres Assistenten berücksichtigt.

Auf dem Weg sammelt die Kapsel noch zwei weitere Senioren des Verbandes ein, bevor die Gruppe am Gebäude der MÜ ankommt, wo ebenfalls vertikal Gemüse gezogen wird und auf dessen Dach Anlagen zur Selbstversorgung mit Energie angebracht sind. Ein Kümmerer wartet bereits am Empfang auf sie. Carmen kennt den jungen und hilfsbereiten Mann aus Julias Theatergruppe, entsprechend ist der allgemeine Umgang miteinander auch informell und offen. Nachdem die Gruppe sich in einen Konferenzraum begeben hat und dort zahlreiche per Virtual Reality zugeschaltete Teilnehmer aus anderen Gemeinden begrüßt hat, schildert eine der Seniorennen, die Vorsitzende des Verbandes, das Anliegen.

Vor kurzem hatte sich eines der Mitglieder des Verbandes, bei dem sich Altersdiabetes auszubilden begann, eine neue „Gesundheitsbox” zugelegt, mit der er nach Bedarf selbst­ständig seinen Gesundheitszustand überprüfen kann. Diese übermittelt die gescannten Daten sowie Ergebnisse des Checks an den persönlichen KI-Assistenten des Benutzers sowie auf dessen Wunsch auch an seinen behandelnden Arzt.

Die Einführung solcher Gesundheitsboxen wurde anfangs kontrovers diskutiert, jedoch zeigten sich schnell die vielen Vorteile, die sie mit sich brachten. Wartezimmer in Praxen leerten sich, da Patienten nicht mehr ständig ihren Arzt aufsuchen mussten, wodurch sich auch zumutbare Entfernungen veränderten. Die Ergebnisse der Scans werden direkt in der individuellen Gesundheitskarte einer Person abgespeichert (über welche der Eigentü­mer ebenfalls die Datenhoheit hat), wodurch zu jeder Zeit eine vollständige Anamnese möglich ist. Im Zusammenhang damit, dass niedergelassene Ärzte zu Angestellten im öf­fentlichen Dienst wurden, trug dies zu einer enormen Flexibilisierung und Leistungsstei­gerung des Gesundheitswesens bei.

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Gleichzeitig meldet die Box dem Nutzer den gemessenen Gesundheitszustand auf Basis eines einfachen Ampelsystems zurück, wobei Grün bedeutet, dass ein guter Gesundheits­zustand vorliegt. Bei Gelb wird empfohlen, die gescannten Daten zur weiteren Anamnese an einen Arzt zu übermitteln und Rot signalisiert, dass der Benutzer über das Übermitteln der Daten hinaus dringend einen Arzt aufsuchen sollte. Das System operiert auf Basis von Empfehlungen und übermittelt Daten niemals ohne Zustimmung des Nutzers an Dritte.

Da der Senior nun Werbung für Diabetikerprodukte erhält, stellt sich jedoch die Frage für den Seniorenverband, ob die Box nicht doch unerlaubt Gesundheitsdaten der Nutzer an Dritte weitergibt. Ein menschlicher Ansprechpartner der MO wird kontaktiert, der eine abstrakte Darstellung des Algorithmus der Box an der Wand des Konferenzraums anzei­gen lässt. Gemeinsam mit seinem KI-Assistenten scannt er nun den Algorithmus und be­stätigt dessen einwandfreie Funktionsweise. Eine Marketing-KI hat offensichtlich Prä­valenzen potenzieller Kunden berechnet, um Werbung zu verschicken.

Carmen und die Gruppe des Seniorenverbandes verlassen, nachdem sich alle verab­schiedet und dem Mitarbeiter gedankt haben, das MÜ, steigen wieder in die bereitste­henden Transportkapseln und fahren nach Hause.

Auf dem Stadtfest: Soziale Bewegung, Freizeit, Kultur

Während Carmen zu Hause noch einige Berichte über den Status ihres Städtchens und seiner Bewohner liest, welche ihr KI-Assistent für sie nach Informationen der Verwaltungs­KI zusammengestellt hat, treffen nach und nach die anderen Familienmitglieder ein und unterhalten sich über ihren Tag.

Am Abend verlässt die Familie ihre Wohnung, um auf den Analogen Abend des Städt­chens zu gehen. Carmens Anwesenheit wäre dort obligatorisch, jedoch gehen die meisten Mitglieder der Gemeinde, so auch sie, gerne dorthin. Der Analoge Abend ist eine Veran­staltung, die regelmäßig stattfindet, um das soziale Miteinander und das Gemeinschafts­gefühl zu stärken. Hierzu treffen sich alle in der kleinen Altstadt, wo es ganz klassisch um das gemeinsame Erlebnis geht, gemeinsam gegessen, getrunken, geredet und getanzt wird und ein Austausch von Medien, selbst Hergestelltem und Ideen stattfindet. Normaler­weise gehört Sarah mit einem Infostand zum Kochen und Julia mit ihrem Theaterspiel zum Bestandteil des Programms, doch heute haben sich die beiden extra vertreten lassen, um gemeinsam mit der Familie auf das Fest zu gehen.

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Veranstaltungen wie diese finden häufig in den Quartieren und Dörfern statt. Als sich die Menschen für die genossenschaftliche Organisation vieler Lebensbereiche entschieden, ging es nicht nur um die Bewältigung von Krisen wie globalen Wanderungsbewegungen oder einer Verknappung von Wohnungen. Mit dem Aufkommen von künstlichen Syste­men, Fortschritten in der Robotik und der zunehmenden Flexibilisierung der Arbeit nah­men Störungen und auch die Angst vor sozialer Desintegration und Fremdbestimmung zu. Die Menschen fürchteten, nicht mehr verankert zu sein, wenig zu interagieren und keine Selbstverantwortung übernehmen zu können. Das Genossenschaftsmodell erlaubt Teil­habe, Inklusion, Egalisierung und Mitbestimmung für alle Mitglieder. In verschiedenen Stu­dien hat sich gezeigt, dass die Menschen zufriedener sind, dass sie das Genossenschafts­modell akzeptieren und sich sogar freiwillig kümmern würden, auch ohne Gemeinschafts­punkte zu erhalten.

Der erste Stopp für die Familie befindet sich auf dem Marktplatz neben dem Haus der Spiritualität, wo ein Freund von Mathias ein Weinlokal mit Außenbestuhlung betreibt. Den Rose aus der Region könnte sogar Leonard trinken, da Genussmittel wie Wein heutzutage ohne Schadstoffe wie Alkohol produziert werden können. Diese Neuerung hatte bei der Einführung zunächst für viel Aufruhr gesorgt, bis klar wurde, dass ein „Rausch” über an­dere Stoffe weniger gesundheitsschädlich und sogar per VR und AR produziert werden kann. Sie zahlen per Karte und so genießen Carmen, Mathias, Sarah, Julia und Leonard ihren Abend gemeinsam mit den vielfältigen anderen Menschen in einem kleinen Städt­chen im Nordpfälzer Bergland.


Szenario Dystopie

Konkreter Rahmen

Die Vorausschau auf die dystopische Situation im Jahr 2050 basiert maßgeblich auf dem ungebremsten Fortgang aktueller negativer Tendenzen. In Deutschland hat sich ein Wirt­schaftssystem entwickelt, das als monopol- und turbokapitalistisch zu beschreiben ist. Profitmaximierung ist die Maßgabe allen unternehmerischen Handelns, und die Märkte werden von einigen wenigen globalen Playern beherrscht, die ihre jeweilige Branche do­minieren. Ihnen ist es gelungen, basierend auf ihrer Datenhoheit aggressive Geschäfts­modelle zu entwickeln, gegen die sich ihre Konkurrenten nicht durchsetzen konnten. Die politischen Akteure waren ebenfalls nicht in der Lage, diesen Entwicklungen entgegenzu­wirken. Einerseits ist es den nationalen Regierungen nicht gelungen, sich auf Regulati­onsmechanismen bezüglich transnational agierender Konzerne zu einigen. Andererseits ist man sich zu spät der Konsequenzen bewusst geworden, die die tiefgreifenden Ver­flechtungen privatwirtschaftlicher Datendienstleister mit den digitalisierten Verwaltungs­prozessen haben würden. Der Neoliberalismus konnte sich zudem durchsetzen, weil der Bevölkerung die Folgen ihres freizügigen Nutzungsverhaltens nicht bewusst waren und aufgrund unzureichender Aufklärung und Vorteilsangeboten von Seiten der Anbieter dem uneingeschränkten Sammeln entpersonalisierter Daten zustimmte.

Nicht nur ökonomisch, auch räumlich und in Bezug auf intelligente Prozesse der Daten­verarbeitung und -zugriffe hat sich eine Zentralisierung vollzogen: Kommerz-, Entscheidungs- bzw. Verwaltungs- und Versorgungszentren sind die nationalen und internationa­len Metropolen. Ländliche Räume sind weiter zurückgefallen und gelten als Transfer­räume, da Einkommen nur selten durch Erwerbsarbeit in der Privatwirtschaft bzw. selbst­ständige Tätigkeit erzielt wird.

Eine Verschärfung des Klimawandels führt in regelmäßigen Abständen zu Katastrophen­ereignissen. Zusammen mit dem anhaltenden globalen Bevölkerungswachstum kommt es immer wieder zu Fluchtbewegungen, die sich in der Verknappung geeigneten Wohnraums auch in Rheinland-Pfalz bemerkbar machen. Nach der weitgehenden Auflösung der Mit­telschicht hat sich die Gesellschaft maßgeblich in zwei Gruppen gespalten – in die Privi­legierten und die Nicht-Privilegierten. Diese Differenzierung zeigt sich in vielerlei Hinsicht sehr deutlich, u. a. bezogen auf Berufstätigkeit, Einkommensverhältnisse, Freizeitverhal­ten und Wohnverhältnisse.

Szenario

Flora ist 16 Jahre alt und lebt mit ihrer Familie in einer Aussteigerkommune in der West­pfalz, die ausschließlich von Anti-Digitalen bewohnt wird. Die Gruppe der Anti-Digitalen hat sich im Verlauf der zunehmenden Einflussnahme intelligenter Softwaresysteme auf das Alltagsleben formiert. Man lebt zurückgezogen in versprengten Gemeinschaften, vor­wiegend in ländlichen Räumen. Auch in Floras Reservat wurde das Glasfasernetz durch die Bewohner gekappt und Funkschnittstellen werden gestört. Der notwendige Strom wird selbst erzeugt. Die Gemeinschaft, bestehend aus rund 100 Menschen, betreibt hauptsäch­lich Subsistenzwirtschaft. Umgeben ist das Reservat von schier endlos scheinenden land­wirtschaftlichen Monokulturen, die von Schwärmen intelligenter Landmaschinen bewirt­schaftet werden. Von der Aussaat über die Düngung und Bestäubung bis hin zur Ernte übernehmen diese sämtliche Aufgaben autonom.

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Die weitestgehend autarke Aussteigerkommune hat kaum Berührungspunkte mit dem Verwaltungs- und Wirtschaftssystem der übrigen Gesellschaft. Von den Leistungen des Sozial- und Gesundheitssystems, das für die Mehrheit der Bevölkerung nur noch die grundlegendsten Notwendigkeiten abdeckt, sind sie ausgeschlossen. Lediglich zu den Be­wohnern der umliegenden Dörfer besteht sporadisch Kontakt, wenn die Aussteiger Waren für den alltäglichen Bedarf einkaufen oder für Geld, das sie vor allem für medizinische Versorgung brauchen, Teile ihrer Ernte verkaufen. Flora weiß, dass man für alles, was über die Grundversorgung hinausgeht, eine der Metropolen aufsuchen muss. In Rhein­land-Pfalz ist das Mainz. Vor allem intensivere medizinische Behandlungen und die Ver­sorgung mit den meisten Konsumgütern können nur dort erfolgen. Für Floras Kommune ist die Metropole darüber hinaus auch für die Verwaltungsgänge relevant, auf die man sich mit den Behörden geeinigt hat, um einigermaßen unbehelligt im Reservat leben zu dürfen. Zu diesem Zweck sind alle Aussteiger-Reservate dazu verpflichtet, in regelmäßigen Abständen Abgesandte in eine Metropolverwaltung zu schicken, um dort die Basisdaten der Gemeinschaft, wie eine Aufstellung der aktuellen Bewohner, Geburten und Sterbefälle o­der den gesundheitlichen Zustand der Bevölkerung, einzupflegen.

Flora kennt die Welt außerhalb der Kommune hauptsächlich aus Erzählungen. Daher will sie dieses „ausbeuterische und unmenschliche System”, von dem immer die Rede ist, endlich selbst kennen lernen. Heute darf sie endlich bei einem der ungeliebten Besuche in der Stadt dabei sein.

Um dorthin zu gelangen, müssen die Bewohner des Reservats in das nächstgelegene Dorf. Die in die Jahre gekommenen Häuser werden dort von mehreren Familien und Ein­zelpersonen zusammen bewohnt, weil es für die vorwiegend nicht-privilegierte Dorfbevöl­kerung unbezahlbar geworden ist, neue Häuser zu bauen. Da die öffentlichen Einrichtun­gen eng mit den globalen Monopolisten der Informationswirtschaft verzahnt sind und rein nach Aspekten der Rentabilität wirtschaften, wird die Daseinsvorsorge im ländlichen Raum stark vernachlässigt. Der Erhalt einer flächendeckenden Energie- und Mobilitätsinfrastruk­tur hat sich als besonders unrentabel herausgestellt. Die Energieversorgung der Nicht­Privilegierten funktioniert sehr unzuverlässig, da Produktion und Industrie vorrangig be­dient werden und sich eine smarte, dezentrale Infrastruktur nicht durchsetzen konnte. Re­generative Energiequellen werden zwar genutzt, die extremen Klimaschwankungen unter­binden aber auch hier eine zuverlässige Versorgung.

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Floras Begleiterin erzählt ihr, dass sie von einem der wenigen Händler, die zwischen Dorf und Stadt verkehren, in die nächste Metropole mitgenommen werden. Diese „fliegenden Händler” sind eine der begrenzten Möglichkeiten, um außerhalb der Stadt an bestimmte Produkte zu gelangen, da sowohl Logistik als auch öffentliche Verkehrsmittel nicht mehr die Fläche bedienen oder aber sehr teuer sind.

Flora und ihre Begleiterin steigen zu dem Händler in einen alten Kleintransporter. Ihr Weg führt sie durch die monotone Landschaft, vorbei an Dörfern, riesigen Feldern und Ställen. Hier werden noch Fleisch- und Milchprodukte erzeugt, die sich allerdings nur eine sehr kleine Zahl von Menschen leisten kann. Dass sich die Artenvielfalt in den letzten Jahr­zehnten halbiert hat, wirkt sich auch auf die Pflanzenproduktion aus. Die zur Bestäubung der Nutzpflanzen fehlenden Insekten haben sich nur unzureichend durch Mikroroboter er­setzen lassen, weshalb weltweit nur noch wenige Sorten gentechnisch modifizierter Nah­rungsmittel in Masse angebaut werden können. Selteneres Getreide, Obst und Gemüse sind entsprechend teurer.

Als sie an einer kleinen Hütte vorbeikommen, die an einem Gleisbett steht, erzählt der Händler, dass hier vor Jahren ein autonomer Wasserstoffzug getestet wurde, der jedoch aus Kostengründen nie in den Regelbetrieb überführt wurde. In den Jahren der Probefahr­ten, nachdem die letzten Dieselzüge aufgrund der in astronomische Höhen gestiegenen Dieselpreise schon längst ausrangiert waren, setzten die Bewohner große Hoffnungen in diese Technologie. Doch nach dem Versagen im Aufbau zuverlässiger Netze zur Elektri­fizierung des Schienenverkehrs bedeutete das Aus die nächste Enttäuschung und damit eine weitere Verschärfung der Mobilitätssituation.

Zwischen den Maisfeldern, die bis zum Horizont zu reichen scheinen, erblickt Flora eines der Habitate, in denen privilegierte Men­schen auf dem Land wohnen. Die Siedlung liegt auf einer Anhöhe und hebt sich deutlich von den übrigen Dörfern ab. Auf satten Grünflächen stehen moderne neben liebevoll res­taurierten Gebäuden, und auf einem zentralen Platz können sich die Bewohner treffen. Das Leben dort stellt sich Flora schön und vor allem einfacher vor, da es keine schwere Arbeit zu geben scheint, die das überleben sichert. Die Siedlung ist umgegeben von ei­nem hohen Zaun, der mit verschiedenen Sensoren versehen ist und am Himmel schwe­ben einige Überwachungsdrohnen.

In der Metropole: Soziale Bewegungen, Verwaltung, Sicherheit, Politik

Flora und ihre Begleiter erreichen die Stadt. Zwischen den Gebäuden ist es jetzt im Som­mer unerträglich heiß und man kann vor Smog kaum sehen. Als sie sich durch den Stadt­stau schieben, wird Flora auf eine Gruppe von circa 25 vermummten Personen aufmerk­sam, die Banner tragen und einen Slogan für Versammlungsfreiheit skandierend durch die Straßen ziehen. Auf eine abfällige Äußerung des Händlers über diese „Sicherheitsterro­risten” hin entgegnet Floras Begleiterin, dass man solche Menschen früher einfach als Aktivisten oder engagierte Bürger bezeichnet habe. Mit Einführung des Social Scoring aber, und der begleitenden Kampagne, wurden politisches Engagement und die Kritik an den herrschenden Zuständen zunehmend stigmatisiert.

Auf die Frage, was Social Scoring eigentlich sei, reicht der Händler Flora eine handliche AR-Sonnenbrille. Auf einmal sieht Flora alles viel bunter und außer Reklame erscheint neben jeder Person, die sie ansieht, ein Punktekonto. Verschiedene Balken und Beschrei­bungen geben Auskunft über Daten wie den Beruf, das Alter oder die Meldeadresse. Bei den Demonstranten ist die Punktebilanz im Vergleich sehr niedrig. Auf einmal laufen uni­formierte Menschen auf, die versuchen, den Protest gewaltsam aufzulösen. Sie tragen lediglich die Bezeichnung „Sicherheit” in der AR-Simulation.

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Der Händler und Floras Begleiterin erklären ihr, dass es sich beim Sicherheitspersonal um die Nachfolger der mittlerweile privatisierten Polizei handelt. Insgesamt, so der Händler, seien solche Protestaktionen inzwischen sehr selten geworden und fänden nur noch in den Städten statt. Wo man früher z. B. soziale Medien nutzte, um gleichgesinnte Men­schen in allen Teilen des Landes zu mobilisieren, erlaubt es das Data Mining heute, Kom­munikation, die eine Störung des öffentlichen Friedens zur Folge haben könnte, zu erken­nen und zu unterdrücken. In der Stadt, wo Menschen auch direkt, d. h. ohne mediale Ver­mittlung, zusammenfinden können, erkennen Überwachungs- und Sicherheitssysteme un­angepasstes Verhalten im öffentlichen Raum. Aufruhr und Mobilisierung gegen Überwa­chung wird – wie gerade geschehen – unmittelbar durch Sicherheitskräfte unterbunden. Wirkliche Verbrechen finden jedoch digital statt, sofern die für Cybersicherheit zuständigen Algorithmen überwunden werden. Diese Sicherung sei wichtig, so Floras Begleiterin, denn die komplette Verwaltung basiert auf einem zentralisierten, datengetriebenen System, das auf allen Ebenen, vom Lokalen bis hin ins Globale, wirkt.

Der ursprüngliche Gedanke der Transparenz und der demokratischen Nutzung durch alle wurde durch den uneinge­schränkten und unkontrollierten Zugriff der Weltkonzerne unterminiert. Als Resultat einer schwachen Politik herrscht heute ein massives Abhängigkeitsverhältnis des Verwaltungs­sektors von privatwirtschaftlichen Informationsmonopolisten. Durch die zusätzliche Ver­schränkung dieses Gebildes aus Wirtschaft und Verwaltung mit den Medien ist die Mani­pulation der öffentlichen Meinung zur Normalität geworden. Neben simplen Fake News werden dabei Mechanismen der politischen Steuerung, die Berichterstattung und das ak­tuelle Meinungsbild intelligent miteinander verknüpft, um Informationen gezielt zu streuen bzw. zu unterdrücken. Dass sich die allgemeine Überwachung persönlicher Datenströme und des öffentlichen Raums mittels Kameras, Drohnen und Sensoren durchsetzen konnte, ist in einem vor dem Hintergrund einiger terroristisch motivierter Anschläge medial erzeug­ten Unsicherheitsgefühl begründet. Aus diesem Grund gab die Bevölkerung bereits vor langer Zeit ihr Einverständnis, Bewegungsdaten und weitere persönliche Daten zu erfas­sen und auszuwerten.

Endlich kommen Flora und ihre Begleitung am Ziel ihrer Reise an: Außen am Gebäude, in dem sich der zentrale Datenknotenpunkt des Landes Rheinland-Pfalz befindet, gibt es ein Meldehäuschen zur Datenannahme, das aussieht wie eine Telefonzelle. Hier pflegt die Abgesandte die Basisdaten ihrer Kommune manuell ein. Man hat sich mit den Behörden auf diese Form der analogen Eingabe geeinigt, um sich im Gegenzug der omnipräsenten Dauerüberwachung entziehen zu können. Dafür sind die Mitglieder der Kommune aller­dings auch von der staatlichen Grundversorgung ausgeschlossen und müssen für alle So­zial- und Gesundheitsleistungen selbst aufkommen. Das Aussteigen aus dieser Gesell-schaft und somit der Verzicht auf Teilhabe ist also der einzige vergleichsweise wider­standsfreie Weg, einer politischen Bewegung anzugehören, überlegt Flora.

Außerdem be­steht im Verzicht auf Teilhabe eigentlich kein wirklicher Verzicht, denn politische Entschei­dungen werden von Experten getroffen, die fast ausschließlich aus dem Kreis der Privile­gierten stammen. Ihnen gibt die KI des Verwaltungsinformationssystems Entscheidungs­alternativen vor. Die politische Handlungsmacht der „normalen” Bevölkerung besteht nur noch in der Wahl von Politikern, die für gewisse Tendenzen bei der Auswahl von Entschei­dungsalternativen stehen.

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Als Flora ihrer Begleiterin bei der Dateneingabe zusieht, wird sie von einem hübschen, gleichaltrigen Mädchen angesprochen. Es wirkt viel sauberer und ordentlicher als alle an­deren Menschen, die Flora bisher gesehen hat. Das Mädchen stellt sich als Diane vor und fragt, was sie dort tun. Daraufhin erklärt Flora, dass sie aus einer anti-digitalen Kommune kommen und hier ihre Daten einpflegen. Es entspinnt sich eine Unterhaltung, die von Di­anes interessierten Nachfragen getrieben wird. Flora und ihre Begleiterin beschreiben, dass sich ihr Leben dahingehend von dem in der Stadt unterscheide, dass sie selbst ihre Lebensmittel produzierten und nicht von technischen Geräten abhängig seien, was sich Diane kaum vorstellen kann. Sie stamme aus einem Habitat hier in der Stadt, einer Gated Community, in der das Leben gänzlich anders sei. Sie berichtet von der Arbeit ihrer Eltern, Freizeitaktivitäten und dem Leben im Habitat der Privilegierten. Schließlich lädt sie Flora und ihre Begleiter ein, ihnen ihr Habitat zu zeigen.

In der Gated Community: Gesundheit, Pflege und Wohnen

Auf dem Weg erzählt Diane, dass sie, sobald sie ihr Habitat verlässt, mit ihrem hohen Social Score und ihrer Erscheinung auffällt. Es gebe einige Menschen, die versuchten, gegen die Ungerechtigkeiten dieses Zwei-Klassen-Systems vorzugehen, oftmals mit Ge­walt gegenüber den Privilegierten, was wiederum dazu führe, dass diese sich noch mehr aus dem gewöhnlichen Alltag zurückzögen. Die Ungleichheiten basieren maßgeblich da­rauf, dass viele der Nicht-Privilegierten sehr hart für sehr wenig Geld arbeiteten – nicht selten in Jobs, die zu unrentabel seien, um von Robotern oder anderweitig automatisiert ausgeführt zu werden. Die meisten hätten jedoch gar keine Arbeit und seien auf die staat­liche Grundversorgung angewiesen.

Im weiteren Gespräch erfährt Flora, dass der Social Score der Privilegierten auch deswe­gen automatisch höher ist, da auch sie der totalen Überwachung in ihren Habitaten ent­gehen können. Allerdings sind der hohe Score und ein bestimmtes Vermögen Grundlage, um in diesen Habitaten leben zu dürfen. Die Kinder, die in die privilegierte Schicht hinein­geboren werden, sind genetisch designte Wunschkinder. Alles kann vorentschieden wer­den und sie kommen mit den besten körperlichen und geistigen Voraussetzungen zur Welt. Im Gegensatz zur Normalbevölkerung können die Privilegierten in den Habitaten über ihre Vitaldaten und ihre medizinischen Daten, die über verschiedene körperinterne und externe Sensoren sowie andere intelligente Technik aufgenommen werden, höhere Beitragssätze selbst bestimmen.

Die Normalbevölkerung hat die Möglichkeit, die Basis­versorgung, die an strenge Kriterien der Krankenkassen gebunden ist, durch die Bereit­stellung zusätzlicher Daten auszubauen. Ab einem gewissen Beitragssatz erfolgt zudem die Prognostik automatisch und die medizinische Versorgung und Pflege ist insgesamt viel besser. Außerdem erhöht sich durch wesentlich teurere und gesündere Nahrung die Le­benserwartung in den privilegierten Habitaten. Flora erfährt zudem, dass die Arbeitszeit vieler Privilegierter vergleichsweise niedrig ist, aber gleichzeitig exorbitant entlohnt wird. Außerdem sind hochqualifizierte Beschäftigungen meist ortsunabhängig ausübbar.

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Während Diane erzählt, passieren sie Industrieanlagen, in denen gerade Schichtwechsel ist, Hochhaus-Ghetto-Siedlungen und den Umschlaghafen, bis sie schließlich das Habitat erreichen. Wie das Habitat, das sie auf dem Land gesehen hat, ist Dianes Nachbarschaft von einem hohen Zaun umgeben. Hier ist die intelligente Überwachungstechnik allerdings so gut wie unsichtbar. Als der alte Transporter zum Stehen kommt, ist eine Einheit des Sicherheitspersonals schon zur Stelle. Allein aufgrund von Dianes Anwesenheit und dank ihrer Erklärung kommt eine genauere Kontrolle von Flora und ihren Begleitern überhaupt erst in Frage. Dem Händler wird der Zutritt auf Basis seines Social Scores sofort verwei­gert, bei Flora und ihrer Begleiterin aus dem Reservat dauert die Überprüfung allerdings länger. Es stellt sich heraus, dass ihre Identität zwar festgestellt werden kann, dass das intelligente Einlasssystem vom nicht vorhandenen Social Score jedoch verwirrt ist. Auch Bewegungsanalyse und Gesichtserkennung führen zu keinem eindeutigen Ergebnis. Aus den Daten, die über die beiden existieren, lässt sich einfach kein stimmiges Bild konstru­ieren. Das Personal verweigert auch ihnen den Zugang.

Auf dem Weg zurück nach Hause denkt Flora lange über ihre Begegnung mit Diane nach. Sie ist sich bewusst, dass sich die beiden wohl nie wieder treffen werden, da sie keine Möglichkeit hat, den Kontakt herzustellen. Gleichwohl kommt sie zu dem Schluss, dass sich trotz völlig verschiedener Lebensrealitäten die Sichtweisen der Privilegierten, Nicht­Privilegierten und digitalen Aussteiger auf die herrschenden Umstände nicht gänzlich un­terscheiden.


Synthese

Die Synthese ist eine Auswertung der beiden Szenarien hinsichtlich der Einflussfaktoren (Welches sind die treibenden Kräfte im Szenariofeld?) und des Zukunftsraums (Wie hän­gen die Szenarien zusammen und welche Kräfte wirken?). Sie dient einer Fokussierung auf Entwicklungen, die positiv oder negativ beeinflussbar sind. Zieht man die Geschwin­digkeit des technischen und sozialen Wandels der letzten 30 Jahre in Betracht, wird deut­lich, dass eine detaillierte Prognose über den Zustand in Rheinland-Pfalz um das Jahr 2050 kaum möglich ist.

Eine der maßgeblichen Erkenntnisse des Workshops besteht darin, dass trotz mangelnder Prognosefähigkeit über den Einsatz der Technologien in der Zukunft negative oder posi­tive Entwicklungen stark von der Aktivität bzw. Passivität der Akteure aus Politik und Wirt­schaft abhängen. Ebenfalls auffällig ist, dass im Workshop bei den Zukunftsszenarien hin­sichtlich Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz keine Technikfantasien entworfen wur­den, sondern gesellschaftliche Entwicklungen im Vordergrund standen. Dies war für die Ausarbeitung der Szenarien ein wichtiger Impuls, der bestätigt, dass Technik nie auf nur eine bestimmte Art genutzt werden kann, sondern dass es sich um einen sozio-techni­schen Komplex handelt, dessen Potenzial für das Gemeinwohl sich durch einen verant­wortungsvollen Umgang entfalten kann.

Aus den Szenarien lässt sich ableiten, dass Herausforderungen bedingt durch Klimawan­del und damit zusammenhängend Bevölkerungszuwanderung für die Bundesrepublik und auch für Rheinland-Pfalz erwartet werden. Diese Integrations- und Klimafragen sind nicht direkt mit KI und Digitalisierung verbunden, können aber hinsichtlich der Auswertung ver­schiedener Daten relevant werden, beispielsweise was die Vorhersehbarkeit von Flucht­bewegungen, den Katastrophenschutz und Steuerungssysteme in Land- und Forstwirt­schaft (Dürre, Hochwasser etc.) angeht.

Weitere Herausforderungen werden aufgrund der zunehmend älteren und nach Einkom­men polarisierten Bevölkerung im Bereich der medizinischen Versorgung und Pflege vor­hergesehen. Andere, momentan nicht abschätzbare Entwicklungen und Fortschritte liegen zudem in der Gentechnik, die ebenfalls indirekt mit KI zusammenhängt. Da Genetik und ihre Integration in andere Technik- und Lebensbereiche in der Zukunft wichtige Themen sein werden, sind sie hier der Vollständigkeit halber genannt, werden jedoch im weiteren Verlauf nicht vertieft.

Als große Gefahr wurde im dystopischen Szenario eine gesellschaftliche Ent-Differenzie­rung in zwei Klassen gesehen, die sich räumlich in der Marginalisierung des ländlichen Raums reifiziert und bedingt wird durch die Vorherrschaft monopolistischer Wirtschafts­konzerne mit einer Zentralisierung ökonomischer Kreisläufe.

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Wird angenommen, dass sich RLP 2050 in einer durch digitale Technologien und intelli­gente Algorithmen beeinflussten Welt befindet, so lassen sich im „glokalen” Kontext doch Gestaltungen von Technik erkennen. Aus der Utopie geht hervor, dass durch die bewusste Abkehr von privatwirtschaftlichen Prinzipien bei Infrastrukturen der Daseinsvorsorge, durch die Verpflichtung zu Transparenz und durch die Schaffung supranationaler Organi­sationen der Einfluss monopolistischer und zentralistischer Strukturen eingedämmt wer­den konnte. Da im Idealfall Algorithmen mit Bezug zu öffentlichen Belangen als öffentli­ches Gut betrachtet werden, ist es sinnvoll, Gremien einzusetzen, die Algorithmen und neu eingeführte Technologien hinsichtlich der Gesetzeslage sowie ethischer und morali­scher Überlegungen bewerten und überwachen. In der Dystopie wurde verpasst, die ak­tuellen globalen Superplayer (beispielsweise Google, Facebook, Amazon) durch interna­tionale Richtlinien und Vorgaben zu regulieren. Zudem wurde ihre wirtschaftliche Stärke basierend auf Technologien der Datenanalyse und -verwertung gefördert, indem man ihnen uneingeschränkten Zugriff auf die auch für das Gemeinwohl angedachten Daten­systeme erlaubte, womit diese ihre ursprünglich soziale Funktion verloren. Entscheidend ist ferner, dass die Bürgerinnen und Bürger erfahren und mitbestimmen, welche Daten mit wem geteilt werden.

Aus den Szenarien kann abgeleitet werden, dass es Vorteile hat, wenn die Daten dem Gemeinwohl dienen, und dass sie beispielsweise im Bereich der Krankenversicherung nicht für Sanktionen benutzt werden dürfen. Ein verantwortungsvoller Umgang mit Daten basiert auf aufgeklärten Entscheidern, informierten Bürger*innen und der Unterstützung durch „bürgerschützende Regeln”, die Missbrauch grundsätzlich erschweren. Diese Auf­klärung und Beratung wurde in der Utopie von einer unabhängigen öffentlichen Stelle übernommen, die für alle Bevölkerungsgruppen ansprechbar ist (Verdacht eines Leaks und Probleme mit Systemen und Technologien). Diese Anlaufstellen, die auch auf Face­to-Face-Kontakten beruhen, würden zudem die Einführung des E-Governments erleich­tern, da sie helfen, Ängste abzubauen.

Das Potenzial eines datengetriebenen Verwaltungssystems erleichtert die Arbeit in den Kommunen (siehe Utopie), da durch die intelligente Auswertung vorliegender Daten Entscheidungsempfehlungen, Vergleiche mit ähnlichen Vorhaben und Dringlichkeiten zu Rate gezogen werden können und damit ein Großteil der bürokratischen Prozesse vereinfacht werden kann. Politiker und Bürgermeister haben damit mehr Zeit für die sozialen und stra­tegischen Aufgaben innerhalb der Kommunen. Auch die Organisation der Vereinsarbeit und anderer ehrenamtlicher Tätigkeiten kann durch ein datenbasiertes, intelligentes Sys­tem erleichtert werden. Eine vorstellbare Form des Ehrenamts wäre das in der Utopie verwendete „Kümmern”, unter anderem nach dem Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe.

Als wichtige Pfeiler für die Attraktivierung des ländlichen Raums als Wohn- und Lebens­mittelpunkt gelten der Breitbandausbau und Mobilitätsangebote sowohl im Bereich der Lo­gistik als auch im Personenverkehr. Eine große Chance für die Kommunen kann die intel­ligente dezentrale und nachhaltige Energieversorgung darstellen.

Aus dem Überwachungsszenario der Dystopie, insbesondere dem Social Scoring, das bereits in Teilen Chinas praktiziert wird, lässt sich ableiten, dass das Potenzial des freien Internets und vor allem das von Social Media umgekehrt werden kann. An die Stelle von Meinungsfreiheit und freiem Online-Journalismus entwickelten sich die Plattformen durch Fake News, Filterblasen, Angst und Unsicherheit zu Instrumenten der Überwachung und missbräuchlichen Steuerung.

Es ist schwierig, aus den Szenarien über die Entwicklung von Arbeit Aussagen abzuleiten. Je nach Branche ist eine Loslösung von einem festen Arbeitsplatz mit flexiblen Arbeitszei­ten mehr oder weniger wahrscheinlich. Es wird weiterhin Berufsbilder mit fester, geregelter Arbeitszeit geben. Eine Änderung in der Nachfrage nach Kompetenzen statt Wissen bei den Arbeitskräften ist vorstellbar und damit zusammenhängend auch eine Anpassung der Aus- und Weiterbildung hin zu einem erleichterten lebenslangen Lernen.

Die Szenarien zeigen, dass für eine an Lebensqualität und sozialer Teilhabe ausgerichtete Gesellschaft die aktive Gestaltung der sozio-technischen Transformation notwendig ist. Dafür bedarf es informierter Entscheidungsträger und Beteiligungsprozessen auf den ver­schiedenen räumlichen Ebenen.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus der „Gutachterlichen Stellungnahme zu den Auswirkungen künstlicher Systeme und der Digitalisierung auf das kommunale Leben in Rheinland-Pfalz 2050“. Die gesamte Studie steht unter ea-rlp.de/earlpdigital2019 zum Download als PDF (88 Seiten, 18 MB) bereit.

Auszug 1 – Künstliche Intelligenz: Konzepte und Technologien
Auszug 2 – Fünf Beispiele: Chancen durch KI in Landwirtschaft, Gesundheit, Ehrenamt, Tourismus und Mobilität in RLP
Auszug 3 – Szenarien für Rheinland-Pfalz: Zwischen Dystopie und Utopie

Zusammenfassung

Veröffentlicht unter Digitalisierung, Klimaanpassung, News, Partner

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